Die Ernte ist groß, aber es gibt nur wenig Arbeiter! Jesus spricht von einem echten Notstand. Was nützt die beste Ernte, wenn niemand da ist, sie einzubringen? Die Ernte kommt nicht von selber in die Scheune. Wenn sie auf den Feldern stehen bleibt, verkommt sie. Dann fehlt das Korn im Speicher, das Mehl für den Bäcker. Und ohne das tägliche Brot, ohne die Ernte der Landwirte droht Hungersnot.
Die Bevölkerung wird älter. Gibt es genug Menschen, die bereit sind, sich der Pflege der Alten zu widmen? Auch in anderen Bereichen zeichnen sich Mangelberufe ab. Wir sind daran gewöhnt, dass alles funktioniert, dass es für alles eine Lösung gibt. Ich brauche nur zu telefonieren, um einen Installateur, einen Elektriker zu rufen, wenn ich im Haus ein Problem habe. Ärztliche Versorgung ist flächendeckend gegeben, polizeilicher Schutz ist gesichert, wie überhaupt fast alles bei uns versichert werden kann. Sicher, es gibt auch bei uns Lücken, aber verglichen mit anderen Ländern geht es uns weitgehend gut. Es ist gut, uns daran zu erinnern, dass das nicht selbstverständlich ist, dass auch bei uns Notstand eintreten kann.
Von welcher großen Ernte spricht Jesus? Und welche Arbeiter fehlen für diese Ernte? Jesus sieht, wie viel zu tun wäre, aber viel zu wenige sind bereit, sich aussenden zu lassen. Immer wieder hören wir, wie Jesus von der Not der vielen Menschen berührt ist, die zu ihm kommen. „Sie sind wie Schafe ohne Hirten“, sagt er. Deshalb wählt Jesus zu den zwölf Aposteln zweiundsiebzig weitere Männer und Frauen aus und sendet sie „zu zweit vor sich her in alle Städte und Ortschaften, in die er selbst gehen wollte“.
Jesus sieht, dass hier ein wirklicher Mangelberuf vorliegt: Menschen, die Jesus den Weg bereiten. Denn Jesus hat erlebt, welchen Hunger, welche Sehnsucht so viele Menschen hatten, die zu ihm in Scharen kamen, ihn hören wollten, seine Nähe suchten. Um solche Mitarbeiter geht es Jesus. Er sucht Jünger, die wie er bereit sind, sich ganz in den Dienst der Menschen zu stellen. Damit sind nicht nur die gemeint, die diesen Dienst zu ihrem Beruf machen, wie Priester und Seelsorger. Sie sind bei uns zu einem Mangelberuf geworden. Umso mehr hat es mich gefreut, vor einigen Tagen acht Priester im Stephansdom weihen zu dürfen. Und Gott sei Dank gibt es nicht wenige Priester, die wirkliche Hirten sind, von Gott erfüllt und für die Menschen da. Um solche Arbeiter für die große Ernte des Herrn sollen wir ihn bitten. Wir brauchen sie dringend!
Die „Arbeiter für seine Ernte“ sind aber nicht nur die „Profis“ der Seelsorge. Jesus sucht möglichst viele, die ihm den Weg zu den Herzen der Menschen bereiten. Das können die Eltern für ihre Kinder sein, jeder von uns für die Nachbarn, die Freunde, die Kollegen. Wer sich darauf einlässt, wird freilich von Jesus „wie Schafe mitten unter die Wölfe“ gesandt. In jedem von uns steckt ein Wolf: unser Egoismus, unsere Härte, unser Stolz. Und oft benehmen wir uns anderen gegenüber wie reißende Wölfe. Wer den Weg mit Jesus geht, kämpft darum, Güte und Geduld, Verständnis und Verzeihen im eigenen Leben stärker werden zu lassen, nach dem Vorbild Jesu. Er ist das Lamm Gottes mitten unter uns, die wir uns oft wie Wölfe verhalten. Er will die Herzen gewinnen. Und das geht nur durch die Güte. Hoffen und beten wir, dass die Güte bei uns nie zur Mangelware wird.
Kardinal Schönborn