Meist haben wir nur eine Art „Außensicht“ der Kirche: die Institution, die Organisation, die Gebäude, Kirchen, Dome, Klöster, die leitenden Personen, vom Papst angefangen bis hin zu denen, die „in die Kirche gehen“. Wer nur diese „Außensicht“ hat, wird sich an vielen Äußerlichkeiten der Kirche stoßen, manchmal sie auch bewundern – etwa die großartigen Kirchen und Klöster oder auch die sozialen Leistungen der Kirche, der Caritas.
Heute führt Jesus zu einer anderen, tieferen Sicht hin, zu einer Art „Innenansicht“ der Kirche, zu ihrem lebendigen Herzen, ihrem Lebensprinzip: „Wenn jemand mich liebt…“ Christsein ist eine Liebesgeschichte. Ohne die Liebe zu Christus ist die Kirche nur ein Verein unter anderen. Jesus spricht von dem, was passiert, wenn einer ihn liebt: „Mein Vater wird ihn lieben, und wir werden zu ihm kommen und bei ihm wohnen“.
Über diesen Satz haben seit 2000 Jahren die christlichen Mystiker gesprochen. Für sie alle war Christsein nicht zuerst ein äußerliches Dazu gehören, sondern eine innere Erfahrung. Sie lebten und erlebten den Glauben an Gott als ein „Innewerden“ Gottes, ein Kommen und Bleiben Gottes in ihrem Leben. Nicht mehr ein ferner, namenloser Gott, eine anonyme Macht, sondern eine innige Beziehung.
Alle die großen Meister des christlichen Lebens, der Mystik, sprachen von diesem „Einwohnen“ Gottes im Menschen, in unserer Seele, unserem Herzen. Ist das eine Erfahrung, die nur einer kleinen Elite von „Superchristen“ offensteht? Oder will Gott allen Menschen so innig nahe sein?
Auch hier ist die Lehre der geistlichen Meister ganz einhellig: Gott will nicht nur wenigen Auserwählten so nahe sein, sondern allen Menschen, Und er ist es auch tatsächlich. Es liegt aber auch an uns, ob wir seiner Nähe innewerden oder sie durch Oberflächlichkeit, Hektik, Zerstreuung nicht wahrnehmen können.
Zwei Hilfen hat uns Jesus gegeben, um seine Gegenwart besser wahrzunehmen. Da ist zuerst der Heilige Geist. Jesus nennt ihn den „Beistand“; man kann auch übersetzen: den „Fürsprecher“ oder den „Tröster“. Was tut er? Er lehrt! Nicht laut, sondern leise; nicht mit Worten, sondern durch die Erfahrung.
Was tut er noch? Er erinnert! Er weckt in uns die Erinnerung, das Gespür für das, was Gott uns zu sagen hat. Manchmal muss er uns aufrütteln, damit wir begreifen, was Gott uns zeigen will. Meist wirkt der Heilige Geist im Stillen, ohne viel Lärm.
Ein Zweites nennt Jesus, das uns untrüglich zeigt , dass er uns nahe ist, ja in uns wohnt: seinen Frieden! „Frieden hinterlasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch“. Es ist nicht der Frieden „wie die Welt ihn gibt“: fauler Frieden, Kompromisse, und vor allen das „Lass mich in Ruhe!“ Jesu Frieden schmeckt anders. Er ist Frieden mit Gott, Frieden in Gott, und daher Herzensfrieden.
Wie gut tut es, sich gelegentlich von Jesus eine solche „Innensicht“ der Kirche zeigen zu lassen! Wie tröstlich ist es, zu wissen, dass Gott in uns wohnen will, uns so nahe sein will. Diese Erfahrung ist nicht nur einigen wenigen vorbehalten. Sie steht uns allen offen.
Kardinal Schönborn