Wassili Dmitrijewitsch Polenow - Christus und die Sünderin
Wassili Dmitrijewitsch Polenow - Christus und die Sünderin

Es gehört zu den bekanntesten Worten Jesu: „Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als erster einen Stein auf sie.“ Es ist geradezu sprichwörtlich geworden. Hat Jesus damit die Sünde verharmlost? Macht er den Ehebruch zu einer belanglosen kleinen Verfehlung? Zu einem Kavaliersdelikt? Schaut er einfach weg? Wird der Seitensprung zur Selbstverständlichkeit? Genau das geschieht hier nicht!

 

Warum berührt diese Szene des Evangeliums so stark? Die Erzählung ist meisterhaft. Kein Wort zu viel. Lebendig und anschaulich. Sie trifft jeden persönlich, wenn wir sie nur ein wenig auf uns wirken lassen. Denn dieses Wort Jesu bringt jeden zum Nachdenken über das eigene Leben: „Wer von euch ohne Sünde ist …“

So sind wir eingeladen, uns in der Vorstellung unter das Volk zu mischen, das sich da am frühen Morgen im Tempel in Jerusalem um Jesus geschart hat, um ihm zuzuhören. Mitten in das aufmerksame Schweigen der Leute bricht ein lauter Tumult herein. Eine Frau wird von einer Gruppe von Männern vor Jesus hingeschleppt: Eine Ehebrecherin! Sie wurde auf frischer Tat ertappt. Empörung! Skandal! Eine Sünderin! Nach strengem damaligem Gesetz hat sie ein todeswürdiges Verbrechen begangen. Sie muss sterben! Sie gehört gesteinigt!

Was wird Jesus tun? Wie wird er sich verhalten? Sagt er: Tötet sie! – dann ist er unbarmherzig. Sagt er: Lasst sie laufen! – dann handelt er gegen das klare Gesetz, das Mose in der Bibel festgelegt hat. Sie wollen ihm eine Falle stellen. Sie suchen einen Grund, ihn anzuklagen. Eigentlich wollen sie ihn töten. Er ist ihnen ein Dorn im Auge. Der Anlass ist günstig. Die ertappte Ehebrecherin ist eine gute Gelegenheit, ihn selber als Gesetzesbrecher zu entlarven.

 

Es steht mir nicht zu, Jesus Noten zu geben. Aber hier bin ich versucht zu sagen: Jesus löst die Situation genial. Bis heute berührt uns die Art, wie er mit den Anklägern dieser Frau umgeht. Jesus stellt das alte Gesetz nicht in Frage. Sünde ist Sünde. Nichts wird verharmlost. Jesus erinnert nur jeden von uns daran, dass auch wir Sünder sind. Wer also die anderen wegen ihrer Sünden anklagt und verurteilt, soll sich zuerst die Frage stellen: Bin ich denn ohne Sünde? „Als sie seine Antwort gehört hatten, ging einer nach dem anderen fort, zuerst die Ältesten.“ Da ich selber schon zu den Älteren gehöre, berührt mich dieses Wort besonders. Die Ehebrecherin dürfte wohl eine jüngere Frau gewesen sein. Wir Älteren urteilen oft vorschnell über die Jüngeren. Jesus hat das Gewissen der Älteren angesprochen: „Wer von euch ohne Sünde ist …“

Am Schluss „blieb Jesus allein zurück mit der Frau.“ Alle Ankläger sind weggegangen. Nur die Leute, die gekommen waren, um Jesus zu hören, sind noch da. Sie werden Zeugen von dem Gespräch Jesu mit dieser Frau: „Wo sind sie geblieben? Hat dich keiner verurteilt?“ „Keiner, Herr.“ – „Auch ich verurteile dich nicht. Geh und sündige von jetzt an nicht mehr.“ Wenn wir dieses Wort Jesu nur wirklich im Herzen aufnehmen könnten: „Ich verurteile dich nicht!“ Mit diesem Wort kann ich neu anfangen. Es gibt Hoffnung und lässt aufatmen. Ich will es künftig besser machen.

 

Übrigens: Zum Ehebruch gehören doch zwei. Wo ist er, der Ehebrecher, geblieben? Ihr strengen Männer, warum habt ihr ihn laufen lassen? Warum verurteilt ihr nur die Frau? Habt ihr bei ihm weggeschaut? Ein Auge zugedrückt? Vielleicht weil er ein Mann ist – wie ihr?

 

Kardinal Schönborn